BUND Ehingen/Donau

AKW Grundremmingen

Veraltet und überfordert
Katastrophenschutz um Atomkraftwerke 2012

IPPNW-Hintergrundpapier - 30. November 2012

Der Katastrophenschutz bei einem AKW-Unfall mit Freisetzung radioaktiver Spaltprodukte ist veraltet und zu kleinräumig ausgelegt. Durch Unfälle mit radioaktiver Freisetzung können wesentlich mehr Menschen und viel größere Regionen schneller und anhaltender radioaktiv belastet werden als bisher angenommen. Die Planungen und Kapazitäten des Katastrophenschutzes in der BRD sind dafür nicht ausgelegt. Eine effektive und verantwortbare Katastrophenschutzvorsorge im Falle eines atomaren SUPER-GAU ist im dicht besiedelten Deutschland unmöglich. Eine umgehende Abschaltung aller Atomkraftwerke in Deutschland1 ist deshalb zwingend geboten. Der Schutz der Bürger muss Vorrang haben vor den wirtschaftlichen Interessen der AKW-Betreiber.

Für jedes Atomkraftwerk in der BRD gibt es bisher einen detailliert ausgearbeiteten Katastrophenschutzplan für den Fall einer Katastrophe mit radioaktiver Freisetzung, der sich an den „Rahmenempfehlungen für den Katastrophenschutz“ (2) in der Umgebung kerntechnischer Anlagen“ und an den dazu gehörigen „Radiologischen Grundlagen“ (3) orientiert. Für dessen Umsetzung ist das jeweilige Landratsamt in AKW-Nähe zuständig. Die Rahmenplanung dafür erarbeiten die zuständigen Länderbehörden. Gesetzgeberisch eingebettet sind die Länderplanungen in die Katastrophenschutzrahmengesetzgebung des Bundes, die für gemeinsame Minimal-Standards sorgen soll.

Alles ist bestens geregelt - zumindest auf dem Papier
Am Beispiel des Atomkraftwerks Gundremmingen in Süddeutschland liest sich das z.B. so: Nach § 53 Abs. 5 der Strahlenschutzverordnung ist vorgeschrieben, dass die Betreiber des Atomkraftwerks Gundremmingen eine Broschüre für die Umgebungs-Bevölkerung erstellen und an alle Haushalte verteilen. (4)Darin soll genau beschrieben sein, wie sich die Menschen im Ernstfall verhalten sollen (Zu Hause bleiben, Fenster und Türen schließen und die Radiodurchsagen beachten), wo sie im Katastrophenfall Jodtabletten erhalten (Nach Aufforderung im Radio soll der Haushaltsvorstand zur nächsten, dann ausreichend mit Jod bevorrateten Apotheke gehen und sich eine Familienration incl. Einnahmemerkblatt abholen) etc. Auch für eine eventuelle Evakuierung ist vorgesorgt. Die nach 48 Stunden vollständig zusammengerufenen Einsatzkräfte nehmen private Busse und die Bundesbahn in Beschlag, sichern schon vorher geplante Ausfallstraßen und Bahnhöfe, richten Notfallstationen ein (=Dekontaminationsstellen mit Duschgelegenheiten für äußerlich verstrahlte Menschen und Waschanlagen für Fahrzeuge), beschlagnahmen frische Unterwäsche und Kleidung in den nächstgelegenen Geschäften und bringen danach die geduschten und mit neuer Kleidung ausgestatteten Menschen mit Bussen und der Bahn und notfalls mit privatenPKWs in dafür vorbereitete Auffanglager außerhalb des Landkreises.
Zur geordneten Planung wurde um das Atomkraftwerk ein 25 km-Radius gezogen, der dann in 12 Sektoren eingeteilt wordenist.
Soweit so gut, aber:
Problem Nr. 1: Die geplante Evakuierungskapazität der Einsatzkräfte ist lediglich für 2 Sektoren des 25-km-Radius ausgelegt. (5)
Problem Nr. 2: Alle vorbereiteten Katastrophenschutzmaßnahmen enden am Kilometerstein 25. (6)
Problem Nr. 3: An den vorbereiteten Standorten für Notfallstationen und Auffanglager droht, dass die Strahlenbelastungdort besonders hoch ist und Retter und Gerettete dadurch gefährdet werden. (7)
Die Verfrachtung des radioaktiven Materials geht mit Sicherheitüber 25 km hinaus. Da, wo Notfallstationen zum Duschen geplant und vorbereitet worden sind und da, wo nach 48 Stunden Schulen als Auffanglager dienen sollen, kann die Strahlenbelastung größer sein als in anderen Regionen, die näher am AKW liegen. Das zumindest haben die Erfahrungen von Tschernobyl und Fukushima gezeigt.
Problem Nr. 4: Radioaktives Spaltmaterial wird schon deutlich früher als 48 Stunden nach dem Unfall frei gesetzt. (8)
Problem Nr. 5: Die Freisetzung von radioaktivem Spaltmaterial dauert länger als 12 Stunden an.
Problem Nr. 6: Katastrophale nukleare Unfälle wie die Kernschmelzen in Tschernobyl und Fukushima sind häufiger zu erwarten als bislang angenommen. Das ergibt sich aus einer Studie des Max-Planck-Instituts für Chemie in Mainz vom Mai 2012. (9)
Problem Nr. 7: Zwei deutsche Regierungsstudien widersprechen den bisherigen Annahmen für den Katastrophenschutz.
Alle bisherigen Katastrophenschutzplanungen setzen voraus, dass erst nach 48 Stunden radioaktives Material aus dem Unfallreaktor entweicht und dass dieser 48 Stunden - Vorlauf genutzt werden kann, um alles gründlich vorzubereiten. Es wird außerdem angenommen, dass nur 12 Stunden lang eine nennenswerte Freisetzung erfolgt.

I. Dem widersprechen schon die Erkenntnisse der „Risikostudie Kernkraftwerke Phase B“ von 1989, die bisher in der Katastrophenschutzplanung nicht ausreichend berücksichtigt worden sind. (10)

II. Im Frühjahr 2012 hat das Bundesamt fürStrahlenschutz (BfS) eine "Analyse der Vorkehrungenfür den anlagenexternen Notfallschutz für deutsche Kernkraftwerke basierend auf den Erfahrungen aus dem Unfall in Fukushima"11 auf der Grundlage veröffentlicht,dass beim SUPER-GAU von Fukushima über wesentlich längere Zeit (25 Tage und nicht 12 Stunden) hochgiftiges und hochradioaktives Material in die Umgebung freigesetzt und über ganz Japan verteilt worden ist. In der BfS-Studie wurden deshalb beispielhaft die Standorte Unterweser (Norddeutschland) und Philippsburg (Süddeutschland) mit modernen Wettermodellrechnungen (RODOS) und anhaltenden radioaktiven Freisetzungen für vier Szenarien von andauernder radioaktiver Freisetzung in Übereinstimmung gebracht. Die Ergebnisse sind erschreckend.

Neuer IPPNW-Vergleich mit der veralteten Evakuierungsplanung
Die IPPNW hat im November 2012 in einer eigenen Arbeit die BfS-Daten von Philippsburg für Erwachsene und für Kinder bildhaft auf das AKW Gundremmingen übertragen und mit der veralteten offiziellen Evakuierungsplanung verglichen. (12)
Die beiden folgenden IPPNW-Grafiken zeigen deutlich, dass bisherige Katastrophen-schutzplanungen von einer viel zu geringen räumlichen Ausdehnung der radioaktiven Wolke ausgehen.




Radioaktive Belastung für Kinder



Radioaktive Belastung für Erwachsene


Was ist neu? (13)
Entgegen der bisherigen Annahme, dass radioaktive Belastung nur über wenige Stunden bis Tage wirksam sei, muss (nach den Erfahrungen von Fukushima) auch von lang anhaltenden radioaktiven Emissionen über Wochen und Monate ausgegangen werden.

• Die bisher angenommene Größe der Verstrahlungsgebiete (25 km-Radius) ist viel zu kleinräumig angelegt (neu: 100-170 - km-Radius).

• Bei nur kurzer Belastung konnte man in der Regel mit einer Hauptwindrichtung rechnen. Bei über mehrere Tage und Wochen anhaltenden Belastungen sind wechselnde Windrichtungen für die radioaktive Verfrachtung wahrscheinlich. Zügige Evakuierungsmaßnahmen werden so in vielen Regionen gleichzeitig erforderlich.

• Bei anhaltender Belastung und großräumiger Evakuierung wird es immerschwieriger, Menschen, die aus organisatorischen Gründen zunächst in den Wohnungen geblieben sind, ohne Gesundheitsgefährdung der Hilfskräfte und der evakuierten Menschen aus der belasteten Region in Sicherheit zu bringen.

• Entgegen der bisherigen Annahme, die Jodblockade der Schilddrüse sei nur einmalig erforderlich, müssten die betroffenen Menschen zum Schutz vor Schilddrüsenkrebs radioaktiv unbelastetes Jod hoch dosiert über viele Tage einnehmen (neu: anhaltende Jodblockade).

• Die bisher geltenden Eingreifsrichtwerte für eine dauerhafte Umsiedlung (100 mSv/Jahr) müssen neu diskutiert werden. Entsprechend den japanischen Erfahrungen ist der bisherige Eingreifsrichtwert von 100 auf mindestens 20 mSv/Jahr zu senken. Selbst dieser Wert wird von Strahlenschützern noch infrage gestellt, weil er zahlreiche zusätzliche Krebsfälle und andere Folgeerkrankungen in Kauf nimmt. In den betroffenen Evakuierungs-Gebieten würden deshalb deutlich mehr Menschen mit den Folgen einer dauerhaften Zwangsumsiedlung konfrontiert als bisher angenommen.

• Die Gebiete mit notwendiger Zwangsumsiedlung werden zahlreicher und größer.

• Evakuierung bedeutet dann: Zwangsumsiedlung über viele Jahrzehnte ohne die Möglichkeit einer vorzeitigen Rückkehr.

V.i.S.d.P. : Reinhold Thiel, Redaktion: Angelika Claußen, Winfrid Eisenberg, Henrik Paulitz, Samantha Staudte, Angelika Wilmen Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzte in sozialer Verantwortung e.V., Körtestr. 10, 10967 Berlin, Tel. 030 / 69 80 74 –0, Email: ippnw@ippnw.de, Web: www.ippnw.de(1) AKW Gundremmingen, Blöcke B und C (Siedewasserreaktoren der Baureihe 72, baugleich mit den Reaktoren von Fukushima); Philippsburg-2, Grafenrheinfeld, Grohnde, Brokdorf (Vorkonvoi-Anlagen, DWR der 3. Generation), Isar-2, Emsland, Neckarwestheim-2 (Konvoi-Anlagen, DWR der 4. Generation)

(2) Rahmenempfehlungen für den Katastrophenschutz in der Umgebung kerntechnischer Anlagen (RE 2008, erlassen vom Bundeministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und verabschiedet von der Innenministerkonferenz nach vorausgegangener Beratung der Strahlenschutzkommission (GMBl Nr. 62/63 vom 19. Dezember 2008)

(3) Radiologische Grundlagen für Entscheidungen über Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung bei unfallbedingten Freisetzungen von Radionukliden (RG 2008, erlassen vom Bundeministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und verabschiedet von der Innenministerkonferenz nach vorausgegangener Beratung der Strahlenschutzkommission (GMBl Nr. 62/63 vom 19. Dezember 2008)

(4) Was tun, wenn…, Ein Ratgeber für die Bevölkerung, Information der Öffentlichkeit nach §38 der Strahlenschutzverordnung, Herausgeber: Kernkraftwerke Gundremmingen Betriebsgesellschaft in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Staatsministerium des Innern – verteilt als Postwurfsendung an sämtliche Haushalte im 25-km-Bereich um das Kernkraftwerk Gundremmingen.

(5) Vorbereitete Katastrophenschutzplanungsunterlagen der für das Kernkraftwerk Gundremmingen zuständigen untersten Katastrophenschutzbehörde des Landratsamtes Günzburg. Ein Exemplar der Planungsunterlagen ist zur Einsicht für die Öffentlichkeit präpariert und kann im Landratsamt nach Voranmeldung eingesehen werden.

(6) Zitat aus dem Antwortschreiben des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 19.09.1992 (Original beim Verfasser): - „Vorbereitete Evakuierungsplanungenfür diese außerhalb der Evakuierungszonen gelegenenGebiete (=25 km - Anm. d .V.) sind in der Bundesrepublik nach Ansichtvon Fachleuten und der hierdurch initiierten Umsetzung durch die Konferenz der Bundesinnenminister nicht notwendig.“

(7) Gering, F. Gerich, B. Wirth, E., Kirchner, G., Analyse der Vorkehrungen für den anlagenexternen Notfallschutz für deutsche Kenkraftwerke basierend auf den Erfahrungen aus dem Unfall in Fukushima, Herausgeber: Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) vom 19.04.12, Seite 34, Schlussfolgerungen für den anlagenexternen Notfallschutz, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0221-201204128010

(8) Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke Phase B, veröffentlicht von der Gesellschaft für Reaktorsicherheit am 30.06.1989

(9) Lelieveld, J.,Kunckel, D., Lawrence M.G.:Global Risk of radioactive fallout after major nuclear reactor accidents; Atmos.Chem.Phys.,12, 4245-4258 (2012)

(10) Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke Phase B, veröffentlicht von der Gesellschaft für Reaktorsicherheit am 30.06.1989

(11) Gering, F. Gerich, b. Wirth, E., Kirchner, G., Analyse der Vorkehrungen für den anlagenexternen Notfallschutz für deutsche Kenkraftwerkebasierend auf den Erfahrungen aus dem Unfall in Fukushima, Herausgeber: Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) vom 19.04.12, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0221-201204128010

(12) Siehe Grafiken 2 und 3, Kartenmaterial im Original beim Verfasser

(13) Gering, F. Gerich, b. Wirth, E., Kirchner, G., Analyse der Vorkehrungen für den anlagenexternen Notfallschutz für deutsche Kenkraftwerkebasierend auf den Erfahrungen aus dem Unfall in Fukushima, Herausgeber: Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) vom 19.04.12, Seite 34, Schlussfolgerungen für den anlagenexternen Notfallschutz, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0221-201204128010





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