Ernst Rees: Ein alter Zopf - oder doch nicht?

Zugegeben, der Begriff, um den es hier geht, hat für viele Heutige einen altväterlichen Beigeschmack, er riecht ihnen zu stark nach "brav" und nach "fromm" - zu Unrecht! Die Rede ist hier von "Tugenden". Mit anderen Worten von Tüchtigkeiten, hier besonders im Blick auf menschliche Reife, d.h. auf Charakter. Und wer wollte sagen, daß wir DIE Ausdrucksform von Menschlichkeit nicht nötig hätten!

Von zweien dieser gemeinten "Tugenden" soll hier also die Rede sein. Ein Teilaspekt der einen ist als "Zivilcourage" viel gefragt. Ich rede also hier von

Stark-mut und von De-mut,

d.h. von menschlichen Qualitäten, ohne die gelingendes Leben kaum vorstellbar ist.

Diese beiden Mutformen scheinen mir verläßliche Wegbegleiter zu sein auf der risikoreichen Wanderung auf dem Lebensweg mit all seinen Unwägbarkeiten im Dschungel des Alltags und auf den Wüstenstrecken einsamer Entscheidungen oder Fehlentscheidungen.

Was wäre auch ein Mensch ohne Starkmut!

Ein Fähnlein im Wind wechselnder Moden, Stimmungen, Strömungen, wechselnder Machtverhältnisse und Herausforderungen. Also eine tragische Figur oder gar nur eine Lachnummer!

Und was wäre ein Mensch ohne Demut?

Im harmlosesten Fall: Ein eingebildeter Narr!

Im schlimmsten Fall: Ein Despot, ein Ellenbogen-mensch ohne Herz, ohne Gewissen, ohne Ehrfurcht, ein Alptraum für Mitmenschen, blind für seine geschöpflichen Grenzen.

Starkmut und Demut, auf den ersten Blick zwei Gegenpole, sind als menschliche Tugenden also Zwillingsschwestern. Beide fallen uns nicht wie reife Früchte in den Schoß, beide sind Früchte eines gelungenen Reifeprozesses.

Die Träger dieser Tugenden überzeugen mit ihrer Ausstrahlung, ihrer natürlichen Offenheit im Umgang mit Mitmensch und Mitgeschöpf. Sie sind getragen von Selbstachtung und - bewußt oder unbewußt - von Gottvertrauen. Das bedeutet für mich u.a.: Glauben an den Sinn meines Lebens mit all seinen Gaben und Aufgaben, seinen Herausforderungen, auch seinen schmerzlichen Enttäuschungen und notwendigen Umlernschritten.

Demut im besonderen gründet im Bewußtsein der Erfahrung menschlicher Grenzen, Irrtum- und Schuldanfälligkeit - eine Schutzwehr gegen jede Versuchung zu dümmlichem Hochmut. Sie begreift alle Begabungen als großzügige Geschenke, allerdings auch als Talente, über deren Nutzung wir einmal Rechenschaft werden ablegen müssen.

Starkmut und Demut sind also keine Widersacher, sondern sich wechselseitig verstärkende Charaktermerkmale reifer Menschen. Sie sind Toröffner zu einem erfüllten, glückenden Leben, jedenfalls unverzichtbare Voraussetzungen dazu.