Ernst Rees: Fortschrittseuphorie - oder Untergangsscenario

Das Verhalten der Tiere in allen denkbaren Situationen ist arttypisch und deswegen leicht vorhersehbar. Innerartlicher Streit gehört zum täglichen Programm, bis die Hackordnung wieder stimmt. Dann ist friedliches Miteinander die Regel.

Allein das "Gehirntier" Mensch ist an dieses genetisch festgelegte "moral-analoge" Verhalten nicht gebunden. Er kann und soll aus Einsicht moralisch, d.h. verantwortlich, also dem Leben dienend, handeln.

Die Kulturgeschichte der Menschheit zeigt: Der Mensch hat seine Talente nicht vergraben, eher mit ihnen gewuchert. Im Zusammenwirken der Faktoren: extreme Unangepasstheit an Umweltbedingungen, das Angewiesensein auf Leben in Gruppen, war er dank der Geistbegabung auch befähigt, der Natur eine zweite Umwelt, nämlich seine kultivierte, abzuringen. Unverzichtbar hilfreich waren auf dem mühseligen Weg dahin neben der Findigkeit und Kreativität im Suchen nach Problemlösungen die Hände des "homo errektus" und seine Sprachbegabung, die jede neue Errungenschaft sofort kulturschöpferisch freigab.

Vor dem spielerischen, aber auch höchst notwendigen Forscher- und Entdeckerdrang des Menschen war, wie wir mit gewissem Stolz, aber zunehmend auch mit schwersten Bedenken feststellen dürfen - und müssen, nichts sicher.

Das Ausmaß der dem Menschen durch die Technik zugefallenen Macht hat den Handlungsspielraum der Tiere himmelweit hinter sich gelassen. Unerhörte, früher nicht mal träumbare Erweiterungen menschlicher Möglichkeiten haben aber auch rabenschwarze Schattenseiten : Es sind die Alpträume von weltweiter Zerstörung bzw. Übernutzung und Vergeudung einmaliger Lebensgrundlagen, heute schon begleitet von schimmsten Übeln aus der "Büchse der Pandorra".

Während die biologische Evolution über 1ooo Millionen Jahre brauchte, die des Menschen immerhin Hunderttausende von Jahren, hat sich die Kulturentwicklung in geschichtlich überschaubarer Zeit immer mehr beschleunigt. Aus der noch allmählichen Entwicklung in geschichtlicher Zeit - in der subjektiven Wahrnehmung lange nur ein rythmisches Kommen und Gehen des ewig Gleichen - ähnlich dem Wechsel zwischen Tag und Nacht und dem Wechsel der Jahresteiten wahrgenommen, wurde seit Beginn der technischen Revolution ein solch sich laufend beschleunigender Wechsel aller überkommenen Lebensumstände, dass es uns schier den Atem nimmt.

Mit geruhsamen Zeiten ist es also weltweit vorbei. Um so dringlicher sind die geistigen Potentiale des Menschen gefordert für eine Welt neuer Chancen, aber auch voll von ungeheuerlichen Bedrohungen, die nach rettenden Lösungen geradezu schreien. Forschergeist, Kreativität und Verantwortungssinn wie nie zuvor ist gefragt.

Hierzu ein Zitat des Freiburger Biologen Carsten Bresch:

"Unsere biologische Herkunft hat uns... mit Eigenschaften ausgerüstet, die für eine weitere Entwicklung schädlich, ja äußerst gefährlich sind. Diese Eigenschaften sind unsere Freude an Besitz, unser Streben nach Macht, unsere Intoleranz gegen fremde Ideen und Schwächen unserer Mitmenschen, vor allem aber unser Gefühlspaar aus Angst und Aggression. Diese Eigenschaften können auf Dauer nicht in Verbindung mit moderner Waffentechnologie und Organisationsform existieren. - Noch ist es unentschieden, ob sich die Menschheit selbst vernichten wird oder aber schnell genug durch einen Wandel, einen umfassenden Wandel ihrer Wertvorstellungen und Denkgewohnheiten in eine neue Phase der Evolution eintreten wird."

Ja, das Gehirntier Mensch hat das Angesicht der Erde verändert! Doch der Umfang der Veränderungen, in den letzten Jahrzehnten des 2o. Jahrhunderts besonders, ist ins Ungeheuerliche gewuchert. Millionen im Wohlstandsbungalow, der Westlichen Welt besonders, haben das nur noch nicht gemerkt. Allein das Aussterben von Pflanzen- und Tierarten hat sich im Vergleich zum Jahre 19oo ver-1ooo-facht!-- Nein, da ist keine Null zu viel hineingerutscht!-- Ein Thema für sich, wie Menschen mit den Tieren (speziell) umgehen, die sie für nützlich halten, die deshalb auch dieses Massensterben überlebten.- Noch nie etwas von Tierkazets, von Rinderwahnsinn, Schweinepest und gotteslästerlichen Rindertransportpraktiken gesehen oder gehört?

Die Aufheizung der Erde durch die Vergeudung der fossilen, damit einmaligen Energiereserven der Erde hat heute schon das Weltklima verändert mit Auswirkungen, die nicht mehr zu stoppen sind. Wir sind konfrontiert mit der dramatischen Zunahme von extremen Schadereignissen durch Wetterstürze mit Sturmschäden, Schnee- und Schlammlawinen, Überschwemmungen da, Dürre-katastrophen, Versteppung, Wüstenvormarsch dort! Wenn damit der Zukunftsfeind schlechthin für die Menschheit angesprochen wäre, würde die Fokussierung auf diese übermächtige Gefahr bei den Menschen vielleicht ein heilsames Erschrecken auslösen, anstachelnd, eine rettende Antwort zu suchen, z.B. in Gestalt der Wasserstofftechnik.

Doch die Zahl der unheilträchtigen Mächte ist Legion!- In ihrem Zusammenwirken schwer zu durchschauen und noch schwerer, bei der Suche nach der Strategie zur Bekämpfung die richtigen Prioritäten zu setzen und auch politisch durchzusetzen.

Der Blick auf das Unmaß der Drohpotentiale in schon unzählbaren Büchern, Filmen, Reportagen, teils mit flammenden Appellen zum Aufwachen (Eppler, Gruhl, Vester, Alt, H.v. Ditfurth), teils schon ganz resignierend (Gregory Fuller), hat Aufforderungscharakter für jeden, der die Augen vor den Fakten nicht verschließt.

Doch das Nicht-wahr-haben-wollen der Zeichen der Zeit, also das Verdrängen des Angstmachenden ist nicht nur große Mode bei den Massen der Wohlstandsbürger, es ist auch große Mode bei den Lotsen der Wirtschaft und auch der Politik, die mehr auf die nächste Wahl schielen, als die Zukunft der Enkel zu bedenken.

Horizonterweiterung wäre bei vielen nötig, damit unter die Haut gehen könnte, was jedes künftige Menschenschicksal betrifft:

    Die Bevölkerungsexplosion und ihren zwangsläufigen, nicht mehr beherrschbaren Folgen. Man denke nur mal an das Elend in den Riesen-slum-metropolen der Dritten Welt!
    Das Sterben der letzten Urwälder der Erde.
    Die bald leergefischten Weltmeere.
    Das Löcherigwerden des Ozonschutzschildes.
    Die Verschmutzung und Vergiftung der Böden, der Gewässer und der Luft.
    Die falschen Lösungsversuche: Ich denke speziell an die Atomtechnik, die mit ihrem Abfall über Jahrtausende jede Zukunft des Lebens in Frage stellt.
    Der Mensch selbst, der heute in Gefahr ist, in hybrider Selbstüberschätzung, geblendet durch unerhörte technische Durchbrüche, die Gefahren zu gering achtet, die mit der alten Triebnatur des Neandertalers nicht nur geblieben, sondern 1ooo mal gefährlicher geworden sind.

Das tragische Ungleichgewicht zwischen der Machtfülle des "homo technikus" in engster Verflechtung mit seiner moralischen Unreife als Triebwesen, sein Tun und Lassen in die Grenzen des Verantwortbaren zu verweisen, bedroht heute die Überlebensfähigkeit der ganzen Menschheit.

Meadow sagt dazu in "Grenzen des Wachstums": "Die Menschheit verhält sich heute angesichts der einmaligen Massierung von bedrohlichen Entwicklungen für jede lebenswerte Zukunft so dumm und so leichtfertig wie der Mann, der seinen Gehirntumor mit Kopfwehtabletten bekämpfen will.- Er kann dabei Anfangserfolge haben, aber das nahende Ende ist ihm desto sicherer."