Ernst Rees: Flammenzeichen

Entsetzt, auch mit Scham reagieren viele Bürger auf das, was seit dem Herbst 92 bis heute in Deutschland wieder möglich geworden ist. Wenn es auch nur eine Randgruppe der Gesellschaft ist, die es fertig bringt, abwegige politische Parolen in verbrecherische Anschläge umzusetzen, so dürfen wir doch nicht übersehen, dass es einen Nährboden aus ewig Gestrigen gibt, ohne den die Untaten der Wenigen nicht denkbar wären.

Die erschreckenden Untaten, meist von unreifen Halbwüchsigen verübt, die über Nacht zu Mördern geworden sind, können kein Zufall sein wie ein Volltreffer im Lotto. Dahinter wirkt immer noch unverarbeitete Nazi-Vergangenheit in explosiver Mischung mit überzüchtetem Anspruchsdenken, enttäuschten Erwartungen in Verbindung mit Zukunftsangst. Die hohe Arbeitslosigkeit im Osten mit ihrem Mangel an Perspektiven macht gerade Randexistenzen anfällig für depressives Sichgehenlassen in Richtung Verwahrlosung, Bandenbildung, Drogensucht, Kriminalität -- oder - und - in politischen Extremismus.

Ihre Suche nach "Sündenböcken" für die eigene Schieflage wurde fündig. Die "Asylanten" und Dunkelhäutige wurden zum "beliebtesten" Jagdwild!

Der Zustrom von außen und der massenhafte Mißbrauch des Asylrechts mit seinen Ärgernissen und Belastungen genügte und genügt bis heute Ideologieverseuchten als Rechtfertigung für ihre Untaten.

Neben den speziell deutschen Problemen, z.B. der bis heute von Unbelehrbaren verdrängten, dunklen N.S.-Vergangenheit, sowie den Folgen der Umbrüche und weltpolitischen Verwerfungen seit 1989 spielt auch das Verdrängen ökologischer Drohpotentiale mit.

Ich denke da z.B. an Bevölkerungsexplosion, die Übernutzung von Böden, Gewässern und der Atemluft, den Massenverkehr auf Straßen und in der Luft, die immer schnellere Verwandlung von Rohstoffen in gefährlichen Abfall, die nicht mehr zu leugnende Klimaveränderung und nicht zuletzt die Auswüchse der gotteslästerlichen Massentierhaltung.

Hier muß jetzt auch der alle Lebensbereiche angreifende paradigmatische Traditionsbruch angesprochen werden, der ungefähr parallel zu den revolutionären Durchbrüchen unserer "Hightech"-gesellschaft verläuft. Der "Macher" Mensch mit seinen durchschlagenden Erfolgen beim Produzieren zahlloser Wunderdinge und eines materiellen Komforts, von dem früher nicht mal Könige träumen konnten, hat mit dem oft beschwerlicheren, aber auch natur- näheren Lebenszuschnitt auch sein kulturelles Erbe, seine religiös- sittlichen Fundamente vielfach als überholt betrachtet und behandelt.

Urwissen um menschliche Maßstäbe des Verhaltens ist heute zu oft überlagert von Konsum- und Anspruchsdenken und zunehmend auch von Zukunftsangst. Umgangsformen lassen oft an "Ellenbogen-gesellschaft" denken, an eine Welt voll neidischer Konkurrenten.

Das vornehmste Menschenrecht, das der Freiheit der Selbstbestimmung, verkommt immer häufiger zu bindungsloser Beliebigkeit, zu Willkür und opportunistischem Kalkül. Hybrides Anspruchsverhalten verrät z.B. der großspurig dumme Slogan: "Freie Fahrt für freie Bürger" -- Jürgen Moltmann dazu in seinem Buch "Mensch": Die wachsende Unzufriedenheit von Menschen in Überflussgesellschaften, ihre Passivität, ihre Langeweile und ihre Ausbrüche in Absurditäten und Obszönitäten, ihre Angst und ihre Schuldgefühle gegenüber Hungergesellschaften zeigen, dass in der Tat die Humanität selber auf dem Spiele steht."

Der praktische Materialismus (hast du was, bist du was; hast du nichts, bist du nichts) erfüllt heute weithin die Rolle einer Ersatz-religion:

  • Ihre APOSTEL ...
    sind die Werbestrategen, die Modeschöpfer, Ihre Produktmanager.
  • Ihre JÜNGER ...
    sind alle Konsumfetischisten, alle Konsum-idioten, die nie oder zu spät merken, dass man das Kostbarste - Selbstachtung, Vertrauen, Freundschaft und Liebe - nicht kaufen kann.
  • Ihre TEMPEL?
    Die Supermärkte, die Discotheken, die Fernsehschirme, denen kein Tabu mehr heilig ist; ferner die Autopisten, Sportarenen und Bettenburgen in Ferienparadiesen.
  • Ihre GLAUBENSSÄTZE?
    Nur keine Hemmungen! Du bist dir selbst der Nächste!
  • Ihr LEBENSSTIL?
    Hektik, Lärm, Brutalität (schul -und hoffähig gemacht über x Fernseh-kanäle) "Nach uns die Sindflut"-mentalität, Konsumismus und Egozentrik als letztes Gemeinsames, Todschlag-konkurrenz im Geschäftsleben, die kulturschänderischen Auswüchse der Massentierhaltung, die Wegwerfmentalität, vor der kein Lebensbereich mehr sicher ist, - der Rückzug der "Reichen" in verbleibende Nischen privaten Wohlbehagens (hinter Mauern und Alarmanlagen).
  • Ihre OPFER?
    Die Süchtigen aller Sorten, Aussteiger, Verwahrloste, Entgleiste.

Die UNSCHULDIGSTEN OPFER: Kinder, denen kein glaubwürdiges, nachahmenswertes Beispiel mehr vorgelebt wird, die "anti-autoritär" oder gar nicht mehr erzogen werden mit Folgen, wie sie schon Plato vor 23oo Jahren in Athen beschrieben hat:

    "Ist es nicht so, dass sich die Demokratie auflöst, selbst auflöst durch eine Unersättlichkeit der Freiheit, wenn Väter sich damit abfinden, ihre Kinder einfach gewähren zu lassen, wie sie wollen, und sich vor ihren erwachsenen Kindern geradezu fürchten, überhaupt ein Wort zu reden, wenn auch Lehrer bei solchen Verhältnissen zittern und ihnen lieber schmeicheln statt sie sicher und mit starker Hand einen geraden Weg zu führen, so dass die Schüler sich nichts mehr aus ihnen machen.

    Überhaupt sind wir ja schon so weit, dass die Älteren sich unter die Jungen setzen und sich ihnen gefällig zu machen suchen, indem sie ihre Albernheiten übersehen oder gar an ihnen teilnehmen, um ja nicht den Anschein zu erwecken, als seien sie Spielverderber oder auf Autorität versessen. Auf diese Weise aber werden Ziele und Widerstandskraft der Jungen allmählich brüchig und mürbe. Sie werden aufsässig. Am Ende verachten sie die Gesetze. -- Und das ist der schöne jugendfrische Anfang der Tyrannis."

Wer hätte es für möglich gehalten, dass Platos Worte bei uns nochmal so "brand"-aktuell werden könnten!

Das lebendige, Kultur begründende Urwissen des Menschen um seine Geschöpflichkeit und der damit übertragenen Verantwortung für das eigene Leben, aber auch Mitmensch, Mitgeschöpf und die Umwelt im eigenen Wirkungsbereich ist löcherig geworden. Nach den Folgen eines Lebensgefühls, bei dem für die Mehrheit nur materieller Besitz, Profit, Genuß und Angst darum zählt, braucht niemand lange zu suchen. - "Weiter so" mit den Zeichen des Absterbens, des Bedrohtseins des Humanen? --
Für Kulturverlust gibt es keinen Ersatz im Supermarkt.