Ernst Rees: Der Geist weht, wo er will

So lautet das vielverheißende Bibelwort. Doch hat es dieser Geist Gottes nicht schwer heute, in der lauten, hektischen, materialistischen, technisierten Welt der Arbeit wie der Freizeit?

Terminzwänge und Stress, wo du hinschaust, ja auch, oder erst recht, in der Freizeit. Dafür sorgt die aggressive Werbung, die uns einhämmert, was man heute alles hat und trägt, was "man" sich nicht entgehen lassen sollte ...

So eilen und hetzen wir von einer Dringlichkeit zur andern, auch der Zeit-totschlag-industrie, nicht nur des Fernsehens. Wohl merken wir immer deutlicher, daß all das Gehetze und Geschiebe nicht das Wahre sein kann. Deswegen flüchten ja auch Millionen, sobald der Terminkalender es zuläßt, in Traumerlebniswelten, wofür heute ja wieder ganze Industrien dienstbeflissen wie beutehungrig zur Verfügung stehen.

Groß ist die Gefahr, daß Menschen in dem Zerreißwolf von nervlichen Überforderungen - als Täter und Opfer zugleich - zu spät oder gar nicht mehr merken, daß sie sehbehindert und taub geworden sind für die leisen Stimmen aus der Stille, von denen zu künden große Geister in allen Kulturen nie müde wurden. Nicht einmal hinterher begreifen Betroffene immer - vom einzelnen Übeltäter bis hin zu ganzen Völkern - wenn die Katastrophe da ist - wo und wann die warnende Stimme aus der Stille leichtfertig überhört oder hochmütig und verblendet mißachtet wurde.

Es gibt sie noch, die Oasen der Stille und der Besinnlichkeit. Für den Geist, der weht, wo er will, sind diese Oasen das Eingangstor zur Seele des Menschen. Die Botschaften aus der Stille sind oft unscheinbar. Es gehören gute Augen und wache Ohren dazu - heute sagt man zeitgemäßer "Antennen". Viele gleichen einem Sonnenstrahl, der durch Wolkengebirge hindurch den Weg zu deinem Auge findet.

Diese Botschaft kann dich treffen

  • in einem strahlenden Kinderlächeln,
  • wenn in Augen Liebender der "Himmel auf Erden" Gestalt annimmt,
  • wenn unirdisch schöne Harmonien eines Chores dich verzaubern,
  • wenn die Ausstrahlung des Innenraums eines Domes dich in seinen Bann schlägt und dir eine Ahnung von einer anderen Seinsebene vermittelt, unzugänglich für Menschen, die ausgelastet sind mit der Jagd nach Erfolg, Profit und Genuß,
  • wenn Sonnenauf- oder untergänge am Meer oder im Hochgebirge mit ihrer überwältigenden Erhabenheit in dir Maßstäbe zurechtrücken,
  • wenn du dir ein Auge bewahrt hast für die Größe der Schöpfung auch im Kleinen. Dann kann ein Spaziergang dir zum Gottesdienst werden,
  • wenn dir ein Mensch begegnet, der gerade deine Hilfe braucht,
  • wenn du vor einer unwiderruflich schweren Entscheidung stehst und ein Mitmensch dir gleichsam zum Boten Gottes wird.

Der "Geist, der weht, wo er will", braucht also Mittler, um wahrgenommen zu werden. In der Regel heißt das: Gott braucht Menschen, die ihren Weggefährten Wegweiser, Helfer, Mahner und Engel sind. Das fängt im Kinderzimmer an. Es hört nie auf, wo Menschen mit Menschen zu tun haben, wo sie einander anvertraut und nicht ausgeliefert sind. -

Eigentlich sollte jeder reif gewordene Mensch sich angesprochen fühlen, selber so ein Wegweiser, Helfer und Engel für Mitmenschen zu werden. In besonderer Weise fühlen sich Religionsgemeinschaften als berufenes Sprachrohr des "Geistes, der weht, wo er will". Doch es ist nicht zu übersehen, daß der stille Auszug aus den tradierten Kirchen keine Eintagsfliege ist. Das muß Ursachen haben.

In wichtigen Lebensbereichen erscheint kirchliche Verkündigung heute vielen als weltfremd. Sie wirkt, eingezwängt in versteinerte Rituale und dogmatische Fixierungen, schwerhörig für drängendste Gegenwartsprobleme der Menschen. Auch ihr hoher ethischer Anspruch paßt längst nicht mehr zu ihrem Erscheinungsbild. Übrigens ist gerade ihr realitätsfremder Rigorismus in Bezug auf Sexualität und Eherecht in Frage gestellt wie nie. Neben ihrem vielseitigen Dienst am Menschen, der Ungezählten geistige Heimat und Lebenshilfe bedeutet, haben Kirchen eben auch ihre fatalen, negativen Seiten, besonders da, wo sie fanatisch, absolutierend Macht über Seelen zelebrieren.

Christlichen Kirchen sind bis heute "Ketzer"jagden, "Hexen"verbrennungen, Kreuzzüge und Inquisition, Absolutheitsansprüche und Kungelei mit den jeweils Mächtigen unvergessen und unverziehen. Das ändert gar nichts an der Gültigkeit und Aktualität von Dekalog und Bergpredigt! Wir dürfen darauf bauen, daß "der Geist, der weht, wo er will", auch durch gar nicht schuldlose, allzu menschliche Strukturen, sich durchsetzen kann.

Der Botschaft aller großen Religionen kommt nämlich der Hunger der Menschen nach verläßlicher Orientierung entgegen. Dieser Hunger nach einer geistigen Heimat ist so natürlich wie der Hunger nach Brot und der Luft zum Atmen. Unser Suchen nach der "verlorenen Heimat" fraglosen Geborgenseins, die glückliche Kinder noch erleben können und die Tieren in ihrer Instinktsicherheit mitgegeben ist, befähigt uns Geistbegabte, auf einer höheren Stufe Geborgenheit und Heimat wieder zu finden.

Unsere Einsicht in Zusammenhänge ist nicht zu trennen von unserer Entscheidungsfreiheit und damit auch nicht von der Verantwortung für den ganzen Umkreis eigener Einsichten. Die Entlassung aus der Instinktgebundenheit in die Souveränität eigenverantworteter Freiheit ist, wie wir nur zu gut wissen, tragisch mißbrauchsanfällig. Diese Freiheit kann sogar dahin pervertiert werden, daß der Geist dazu benutzt wird, Maßlosigkeiten animalischer und emotionaler Antriebe das Mäntelchen des Vernünftigen und Notwendigen umzuhängen, um Gelüsten um so hemmungsloser nachrennen zu können. Ein todsicherer Weg, das dem Menschen zugewiesene Ziel "Selbstverwirklichung in geglückter Harmonie von Körper und Geist" zu verfehlen. -

Vor solchen Irrwegen zu bewahren ist wohl die nobelste Aufgabe jeder Religionsgemeinschaft. - Sie kann uns Menschen gleichnishaft, in Bildern - mehr ahnend als wissend - von einer Seinsebene künden, die wir "göttlich" nennen, und der wir uns verantwortlich fühlen sollten.

Der Mensch der sogenannten "Postmoderne", der sich von der religiösen Tiefendimension seiner Natur verabschiedet hat, scheint blind gegenüber den Grenzen seiner Geschöpflichkeit in seiner Ausbeutermentalität, in seinem Anspruchsdenken, seiner Konsumidiotie, seiner Technikanbetung, in den Maßlosigkeiten seiner Genußsüchte.

Die Folgen der Anbetung falscher Götter sind nicht mehr zu übersehen. Ob das Rettende: wahre Religiosität, d.h. demütiger Respekt vor den geschöpflichen Grenzen menschlicher Existenz noch rechtzeitig den Umgang der Menschen und Völker miteinander und dem Umgang mit allem Leben um uns und unserer Mutter Erde unseren Sinn für Verantwortung schärft - in time, wie die Briten sagen - die Zukunft der Menschheit hängt daran.

Mir begegnete die Botschaft aus der Stille nachhaltig in gütigen Menschen, in großer Dichtung, im Erlauschen unsterblicher Meisterwerke der Musik, in Naturerleben, .... Am überzeugendsten wohl im Leben von leibhaftigen Vorbildern bis hin zu ihrem Lebensopfer.

Die Transzendenz ist offenbar nicht auf festgefügte, oft versteinerte Formen, Formeln und Dogmen angewiesen, um erfahrbar und wirkmächtig zu werden. Denn alles von Menschenhand und Menschengeist Geformte kann in Bezug auf letzte Wirklichkeit doch nur ein erdverhaftetes Stammeln sein.

Den vergeistigsten Ausdruck hat die "Botschaft aus der Stille" nicht in "unfehlbaren Lehrsätzen", sondern in unsterblicher Musik gefunden.