Ernst Rees: Gewohnheiten: Segen --- oder Fluch?

Sollen wir sie loben - oder uns vor ihnen fürchten?

Damit ist schon angedeutet, daß auch Gewohnheiten wie so vieles in unserm Leben die sprichwörtlichen zwei Seiten hat. "Wo Licht ist, ist auch Schatten", sagt der Volksmund. Von der "Bi-polarität" alles Irdischen spricht der Philosoph. Deswegen sprechen wir von "guten" und von "schlimmen" Gewohnheiten.

Gute Gewohnheiten haben höchst erfreuliche Wirkungen: Sie entlasten! Denn sie automatisieren das zunächst vielleicht mühsam Erlernte zu einer Selbstverständlichkeit, zu sicherem Können. Meisterliches Können macht aber den Kopf frei für neue Lernschritte, neue Aufgaben und Herausforderungen. Kein Wunder, daß solches Offensein im mitmenschlichen Umfeld gut ankommt. Erfahrene Wertschätzung wirkt natürlich wieder verstärkend auf den "Leistungsträger" zurück, z.B. in Gestalt von mehr Selbstvertrauen, mehr Selbstachtung und dem Gefühl sozialer Geborgenheit. Überspitzt gesagt: In guten Gewohnheiten läßt sich gut wohnen!

Böse Gewohnheiten dagegen sind fast so gefährlich und zerstörerisch wie Krebsgeschwüre. Sie stören und zerstören gute zwischenmenschliche Beziehungen und natürlich auch die Selbstachtung. Beinbruch und Lungenentzündung sind Bagatellen daneben. -- Sprachliche Etikettierungen lassen an Treffsicherheit nichts zu wünschen übrig! Beispiele gewünscht? - "Säufer, Windbeutel, Faulenzer, Wetterfahne, ..."

Sogar die guten Gewohnheiten sind an den Rändern, wo sie in Übertreibung entarten, für tragische Verfehlungen anfällig. So kann z.B. aus Sparsamkeit - Geiz werden, aus Genauigkeit - Pedanterie, aus Gewissenhaftigkeit - ein ängstlicher Perfektionismus, aus Wahrheitsliebe - Fanatismus, aus Großzügigkeit - Schlamperei, aus Vorsicht - Mißtrauen, aus Prinzipientreue und Zivilcourage - Vermessenheit.

Wie aber entstehen sie denn, die guten, wie die schlimmen Gewohnheiten? - Säuglinge und Kleinkinder machen es wie Tierkinder: Aus innerem Antrieb heraus sind sie im Wachzustand fast immer mit spielerischem Funktionstraining ihrer Anlagen beschäftigt. Sehr bald verbinden sie das mit der unbewußten Nachahmung ihrer Bezugspersonen. So angetrieben von ihren Motivationsquellen probieren gesunde Kinder alles aus, was ihnen zugänglich ist und was Spaß macht. Das umfangreichste Lernprogramm wird also von Kindern, die im Bereich klug dimensionierter Freiheit leben, ohne "Lehrer" bewältigt.

Zu diesem Spiel "trial and error" gehört, daß Negativerfahrungen sehr schnell gemieden werden. - Natürlich ist hier, wie schon angedeutet, die kluge Begleitung der "Erzieher" als Wegweiser wie als Grenzensetzer von größter Wichtigkeit. In unzähligen Einzelschritten werden also viele Reaktions- und Handlungsmuster übernommen, die meisten wohl kaum zu trennen von ihren gefühlsgetränkten frühen Erfahrungen-.

Schicksalhaft, was das Kind an genetischem Erbe mitbringt, aber - ich meine - noch schicksalhafter, was auf junge Erdenbürger in ihrem nahen, emotionalen menschlichen Umfeld auf sie einwirkt. Das gilt im Guten wie im Bösen, Charakterstrukturen formend - oder verformend -, Segen oder Tragik bedeutend. Aus den sich ansammelnden Erfahrungen und gewonnenen Vorstellungen von der Welt um sie herum wachsen Einstellungen und Handlungsmuster, die schließlich zu ersten Gewohnheiten werden.

Von meiner Erörterung möchte ich hier deutlich eine Gruppe von Gewohnheiten ausschließen, nämlich die, die niemandem nutzen und niemanden schaden, also persönliche Eigenheiten und Vorlieben, sogar Ticks und "Marotten".

Die Gewohnheiten, um die es hier geht, sind gleichsam Startrampen für ein glückverheißendes, erfülltes Leben - oder sie werden zu einem Ghetto für kümmerliche oder schlimme Lebensläufe.

Immer dann, wenn das Kind eine "Anfrage" an die Mutter oder an das soziale, emotionale Umfeld hat, formt die Antwort darauf an dem Bild, das sich das Kind von der Welt macht. - Es reagiert darauf glücklich, nachdenklich, enttäuscht oder verstört. Wer Augen hat, weiß, wie bodenlos kindliche Verzweiflung sein kann. - Die bezaubernde Kehrseite in diesem Fall: Strahlendes Kinderlachen ist ein offener Himmel!

Wo negative Erfahrungen des Kindes Alltag sind, werden Fehlprägungen zwangsläufig zu schicksalhaft bösen Gewohnheiten führen. Wo aber Kinder in einer Atmosphäre souveräner Freiheit - nicht zu verwechseln mit wertblinder Beliebigkeit - leben, da wachsen und gedeihen aus Versuch und Irrtum Fähigkeiten und Fertigkeiten. Es ist der Königsweg, der oft zu Meisterschaft führt und manchmal sogar zu Künstlertum.

Und jede Entwicklungsstufe wird dann begleitet sein von immer neuem Erfolgs- und Glückserleben, das auch durch viele Widrigkeiten des Alltags tragfähig zu bleiben verspricht.

Gute Gewohnheiten werden so zum Zauberschlüssel, zum Toröffner zu einem menschlich und beruflich erfüllten Leben.

Schlimme Gewohnheiten dagegen gleichen dicken Gefängnismauern. Sie sperren den Fehlgesteuerten, den auf Abwege Geratenen desto hoffnungsloser ein, je mehr der sich in unfruchtbare Rechtfertigungen für eigenes Versagen versteigt.