Ernst Rees: Die Verdrängungskünstler und die Klügeren

Die einen halten sich selbst für klug, erfahren, umsichtig, offen für die "Realitäten" dieser Welt. --- In Wirklichkeit sind sie oft ein Leben lang auf der Flucht vor ihren Schattenseiten, auch den Schatten ihrer Vergangenheit, die wie Pech an ihnen kleben, die aber schicksalhaft ihr ganzes Leben mitprägen.

Sie haben es nie geschafft, zu den dunklen Seiten ihres Lebens zu stehen, sicherlich oft aus Mangel an gesundem Selbstvertrauen, was aber keinem - nur so - in den Schoß fällt. Häufiges Markenzeichen solcher Menschen "auf der Flucht" vor sich selbst: Ihre Hektik, mit der sie bemüht sind, ihren 1ooo drängenden oder eingebildeten Tagespflichten zu genügen, - alle Chancen des Augenblicks nutzen wollend.

Unter dem Müll solcher Tage eitern so die heimlich - unheimlichen Wunden weiter. Ihre seelischen Giftstoffe aber wirken. Sie beeinflussen unbewußt alles Tun und Lassen unserer Verdrängungskünstler. Für unerfreuliche Folgen, wie zwischenmenschliche Entfremdung, böse Ausrutscher, kleinere und größere Explosionen aus dem seelischen Überdruckkessel, stehen bei Bedarf flink meist simple Erklärungen zur Verfügung.

Zu groß scheint die Gefährdung des "armen Ich", würde es wagen, Ursachen für Mißliches und Belastendes im Leben auch bei sich selbst zu suchen - gar noch zu finden! -

Für den, der allzu lang sich gesperrt hat gegen immer wieder wahrnehmbare Mahnungen des Gewissens ein schier unerträglicher Gesichtsverlust, wenn das Stehen zu eigenen Armseligkeiten ein ganzes Gebäude an Selbstrechtfertigungen und womöglich noch Überheblichkeitswahn wie ein Kartenhaus zusammenbrechen ließe.

Die "Wahrheit" neurotisch/psychotischer Charaktere ist ein Chamäleon. Sie ist nur Spielmaterial für kranke Seelen. Das Bedrohtheitsgefühl des Augenblicks allein bestimmt, was" wahr" ist.

Der "Kluge" dagegen, dem viel an seiner seelischen Gesundheit liegt, wird es ganz anders machen: Er wird in der Regel "in time", also wenn es geboten erscheint, zu seinen Fehlern und Schwächen, und wo es Achtung vor dem "Du" gebietet, auch zu persönlicher Schuld stehen. Wo es nötig und möglich, wird er Krummes gerade biegen. - Er wird sich neuen Einsichten nicht verschließen, auch wenn es mal schmerzt; er wird also lern-und umlernfähig bleiben. Denn er ist sich seiner Grenzen bewußt, deswegen auch seiner Irrtumsanfälligkeit.

Seine Klugheit ist eigentlich nur Ausdruck seiner demütig machenden Einsicht in unsere unvollkommene Geschöpflichkeit und ihre engen Grenzen. Er sieht keinen Grund zu Überheblichkeit - und er weiß: Nur Wahrhaftigkeit, auch und vor allem sich selbst gegenüber, macht frei. So wird der Kluge seine innere Freiheit bewahren oder wiedergewinnen und so Herr im eigenen Haus bleiben - letztlich in Ehrfurcht vor DEM, der uns Menschen Einsichtfähigkeit schenkte mit dem Auftrag, in eigener Verantwortung unserm Leben Form und Inhalt zu geben.