Ernst Rees: Das Leben -- eine Reise ohne Rückfahrkarte

Das Leben ist einem Schachspiel vergleichbar. Am Anfang bist du - von der Bindung an die Spielregeln einmal abgesehen - frei in der Wahl deiner ersten Züge. Doch mit jedem weiteren Zug wird deine Wahlfreiheit, natürlich auch durch die Antworten des Spielpartners, also Gegners, mit wachsender Unerbittlichkeit eingeengt.

Geänderte Strategiepläne können jeweils nur noch vom erreichten - oder verschuldeten status quo sinnvoll ausgehen.

Auch auf der Reise durch unser Leben gibt es nur eine Fahrtrichung: nämlich "VORWÄRTS!" - Wiederholungen nach falschen "Zug" sind nicht drin!

Hier wie dort sind kleine Schnitzer wie ein Nasenstüber, oft noch eine Chance bzw. ein gnädiger Wink des "Schicksals", noch rechtzeitig nachdenklich und selbstkritisch den bisherigen Weg und seine Richtung zu werten und wo nötig zu ändern.

Hier wie dort kann ein einziger Fehler spielentscheidende, bzw. schicksalhaft tragische Folgen haben.

Angehende "Schachmeister" machen manchmal verblüffende Erfahrungen:

- Denn gar nicht selten kippt eine scheinbar gewonnene Partie durch ein anscheinend selbstmörderisches Offiziersopfer des Gegners, das aber gerade dem den Weg frei macht zum spielentscheidenden Mattangriff. Diese Spielerweisheit deckt sich mit der Lebenserfahrung, dass gerade Opfer und Verzichte auf schnelle Erfolge, um eines höherwertigen Fernzieles willen, oft unerwartet deutlich "belohnt" werden.

Was aber im Leben schief gelaufen, kann keine Macht der Erde ungeschehen machen. Das Vergangene ist also entweder eine gute Grundlage für eine hoffnungfrohe Zukunft - oder eine untilgbare Hypopthek.

Was Spielregeln beim Schachspiel, sind beim vernunftbegabten Menschen neben Lebensklugheit - gewiß nicht zuletzt - die ins Herz geschriebenen ethischen Normen, die den Menschen zu selbst zu verantworteter Lebensführung auffordern.

Natürlich bleibt Schach nur ein schwaches Abbild von Menschenleben, das man auch mit einer Gratwanderung zwischen unserer triebgesteuerten Egozentrik einerseits - und der vielgesichtigen Bedrohung durch vergewaltigende, verdummende und verführerische Außer-ich-mächte andererseits vergleichen könnte.

Der schmale, so gefährdete Gratwanderpfad hat heute einen neuen Namen bekommen. Er heißt jetzt "SELBSTVERWIRKLICHUNG". Hinter diesem oft mißverstandenem und viel mißbrauchten Begriff als Zielbeschreibung für ein erfülltes Leben verbirgt sich

die doppelte Bestimmung des Menschen: Die personale Selbstfindung und -Entfaltung - und -unabtrennbar davon - das Mitmensch- und Mitgeschöpfsein.

Beide Bestimmungen des Menschseins sind nicht nur Forderungen der Vernunft, sie werden auch mächtig gestützt durch unsere Urbedürfnisse und Strebungen. Ihre Erfüllung wird ja auch durch starke Gefühlswerte belohnt. Nun ist etwa geglückte Selbstfindung denkbar ohne das "Dazugehören", ohne Erfahrung von Geborgenheit und Wertschätzung, ohne Leben und Wirken mit geliebten Du's, in und für Gemeinschaften? -

Die innigste Lebensgemeinschaften zwischen Mann und Frau, zwischen Mutter und Kind sind Sinnbilder für den zweiten Aspekt der Berufung des Menschen.

Wo beide mächtige Antriebsquellen zum Menschsein: Selbstseinwollen und Mitmenschsein sich ergänzen, befruchten und bewähren ohne Konflikte, da haben wir leider nur schön geträumt. In Wirklichkeit müssen wir uns der lebenslangen Aufgabe stellen, für beide, oft widersprüchlichen Motivatoren einen verantwortbaren Ausgleich zu suchen. Auf gut deutsch heißt das: Wir haben das Recht, ja sogar die Pflicht, uns unserer Haut zu wehren, wo eigene Bedürfnisse und elementare Rechte nicht respektiert werden. - Dieses Recht wird aber im Handumdrehen gegenüber Mitmensch und Mitgeschöpf zur Pflicht der Solidarität. - Kann ich denn guten Gewissens den Du's um mich den Gegendienst verweigern, ich, der ohne sie gar nicht existieren könnte?

Wo also bei einem die Balance zwischen beiden Strebungen stimmt, reden wir als Beobachter gern und schnell von Glückspilz, Begabung, gar von Genie und Charisma.

Wo die Balance aber verloren geht, sind zerbrochene Hoffnungen, Schuld, Verstrickung, Not, Leid und Ausweglosigkeit nicht immer weit.

Doch es gibt viel glückendes, erfülltes Leben als Antwort auf gemeisterte Herausforderungen. - Es bleibt unsere Aufgabe, das Leben als Chance, als Geschenk und zugleich als Auftrag zu begreifen - in Demut vor dem Geheimnis, das wir Gott nennen - mutig und nach Kräften es zu gestalten suchen, nur selten der Versuchung erliegend, eigenes Versagen auf widrige Umstände oder Fehler und Bosheit von Mitmenschen zu schieben zur eigenen Rechtfertigung und zur Beschwichtigung eines aufmüpfigen Gewissens. -

Denn nur, wer es wagt, sein Schwachstellen nicht zu verleugnen, kann über sie hinauswachsen!