Ernst Rees: Vom menschlichen Maß

Wir alle kennen Menschen, deren Sonnenseiten wir schätzen und vielleicht sogar bewundern oder beneiden, die beim näheren Hinsehen oder Umgang gar nicht so selten störende Schattenseiten offenbaren.

Woher kommt das? - Menschencharaktere sind eben längst nicht immer eine eindeutige Größe und Gestalt. Sie sind Ergebnis von langen Entwicklungs- und Reifeprozessen.

Vieles wirkt bei diesen Prozessen mit:

Zunächst natürlich die Erbanlagen mit ihren unterschiedlichen Stärken und Richtungen, Schwächen und Defiziten und den daraus resultierenden ambivalenten Trieben und Neigungen.
Als zweiter mächtiger Strom von Einflüssen, die schicksalhaft auf die Zukunft eines Menschenkindes einwirken, sind hier zu nennen: Die familiären, sozialen, die zivilisatorischen, d.h. auch die zeitgeschichtlichen und geographischen Rahmenbedingungen der Kindheit und der Jugendjahre.

Was hier an Urerfahrungen zu Urprägungen wird, fördernd oder hemmend, störend oder verbiegend in das junge Leben eingreift, wirkt für ein ganzes Leben als Unter- oder Hintergrund in jeder personalen Entwicklung nach. - Alle künftigen Lebenserfahrungen, jede Verarbeitung von Eindrücken bleibt also eingefärbt von den frühen Prägungen. Das hört sich vielleicht fatalistisch an. Doch unserer Freiheit sind eben geschöpfliche Grenzen gesetzt. - Immerhin: der Mensch ist das Ausnahme-Geschöpf. Sein Leben ist nicht nur blindes Verhängnis, also ein "Geworfensein" (Sartre). Seine Geist- oder Vernunft-begabung ruft ihn in die aktive Mitverantwortung, nicht nur für sein eigenes Leben, auch für alles Leben um ihn, natürlich im Rahmen seiner Einsichtsfähigkeit und seiner Möglichkeiten.

Seine Vernunftbegabung, die ihn weit über die Instinktgebundenheit der Tiere hinausführt, nicht aber aus seiner Triebnatur, kann diese nicht verleugnen - er soll sie auch nicht, aber überschreiten, transzendieren soll er sie! Mit anderen Worten: Seine wahrlich nicht leichte Aufgabe im Umgang mit seinen Antrieben heißt:

Ordne sie ein, integriere sie in den größeren Zusammenhang deiner Fähigkeit, Verantwortlichkeiten zu sehen und handle danach!

Das "Soll" ist aber kein "Muß". Der Mensch kann sich der Stimme des Gewissens verweigern, aber um welchen Preis!---

Dem, der den Adelsbrief des Schöpfers an die Menschen: Entscheidungsfreiheit! - verantwortungsbewußt nutzt, öffnen sich Tore, die auch höchst entwickelten Tieren ewig unzugänglich bleiben.

Und was öffnet sich dem, der diese Wahlfreiheit mißbraucht?

Mit jeder unverantwortlichen Entscheidung zu Gunsten eines verlockenden Nahzieles schrumpft Freiraum zu wahrer, schöpferischer Entfaltung des ICH.

Für das, was einer als Erbe mitbringt, kann er nichts. Aber das zählt, was er aus dem Mitgebrachten gemacht hat --- und macht. Wo Launen, Verstimmungen, Egoismen und Vorurteile in einem ICH meist das Sagen haben, da hat die Reifung zur Persönlichkeit dringendsten Nachholbedarf. Wo Triebimpulse die Stimme von Vernunft und Gewissen überschreien, helfen Klagen über die Folgen nichts.

Machen wir uns nichts vor! In jedem von uns scheinen mehrere ICHs

zu wohnen (manchmal auch zu hausen!). Erfreuliche und auch weniger schöne, ja, oft höchst Widersprüchliche. Steckt nicht in jedem von uns - mehr oder weniger - Erlöstes neben Unerlöstem, Gestaltetes neben Unreifem, Gutes neben Fragwürdigem, Imponierendes neben Banalem?

So lange wir leben, sind wir eben noch unterwegs. Das Ziel scheint klar: Die widersprüchlichen ICHs in uns sollten zu einer harmonischen Persönlichkeit heranreifen, in der alle Einzelkräfte ihre gebührende Berücksichtigung finden, diese andererseits sich auch den Zielen des Ganzen unterordnen, wie die vielen Instrumente und Stimmen eines Orchesters ihrem Dirigenten.

Was wäre auch Verstand ohne Herz?

Was wäre Wagemut ohne Klugheit,
Was Schaffenslust ohne Umsicht und Übersicht,
Was Fantasie ohne Zielstrebigkeit,
Was Gewissenhaftigkeit, wenn lähmende Pingeligkeit dem Erfolg im Wege steht?

Was nützen Einsichten, denen kein verantwortbares Tun oder Lassen folgt?

Was nützt Verstehen ohne Zivilcourage?

Was nützt Geschäftigkeit, die nur Nichtigkeiten produziert?

Was nützt Intelligenz ohne Gefühl und Menschlichkeit?

Was ist Schönheit wert ohne Zuverlässigkeit?

Was wäre Wahrheitsliebe ohne Takt und Feingefühl?

Was wäre Grundsatztreue ohne Freude, ohne Freundschaft und gar noch ohne Liebe?

 

Gedanken dazu im nachhinein:

Was habe ich aus meinen Anlagen gemacht?

Wo bin ich meinem Leben notwendige und mutige Entscheidungen schuldig geblieben?

Wo bin ich widersprüchlich geblieben?

Womit darf ich zufrieden sein?