Ernst Rees: Was ist der Mensch?

(Gewagte, fast naive Einfälle zu einem unauslotbaren Thema)


Ist er etwa Herr seiner selbst? - autonom? ("Mein Bauch gehört mir!")
Oder ist er eigentlich eher Sklave seiner Antriebe aus tierischem Erbe?
Oder ist er nur Gefangener seiner "Aufzuchtbedingungen"?
Ist er nur ein innerlich gespaltenes, also verunglücktes Zufallsergebnis der Evolution aus Körper und Geist? ----
Oder ist der Mensch Verwalter eines anvertrauten Gutes?

Alles, was er ist, was er kann, was er hat, ist Geschenk auf Zeit: Leben, Gesundheit, Wohlgestalt, Begabung, Einbettung in vertrautes menschliches Umfeld, Heimat, Entfaltungsmöglichkeiten u.u.u.

Die dem Menschen gesteckten Grenzen sind eng und weit, je nach dem.
Und - von Mensch zu Mensch sehr, sehr verschieden - weit entfernt von dem, was wir als "gerecht" empfinden könnten.

Eingewiesen in den Zeitraum zwischen Geburt und Tod, angewiesen auf irdische Existenzbedingungen, d.h. auch angewiesen auf den Dienst vieler Mitmenschen zur Befriedigung unabweisbarer Bedürfnisse, bedroht durch zahllose Gefahren für die leibliche und seelische Gesundheit, angepasst und eingeengt durch familiäre, soziale, gesellschaftliche Bindungen und Tabus, aber auch in ihnen geborgen, bedrängt von tierischer Triebhaftigkeit im Widerstreit zu den Forderungen der Vernunft und dem Sinn für Verantwortung - wahrlich keine Kleinigkeit, Mensch zu sein, zu werden!

Immer in Gefahr, von Außer-ich-mächten und Über-ich-Autoritäten, zum Beispiel zu eng gewordenen Sippen-tabus, Gruppenzwängen, Zeitgeist, konfessionelle Engen, Massentrends, Parteien, Ideologien, Notlagen, auch Verwöhnung, überzogenes Anspruchsniveau, Werbungsterror ... verführt, manipuliert, missbraucht zu werden.

Andererseits stehen aber dem Menschen durch die Vernunftbegabung neue Welten offen, von der auch höchst entwickelte Tiere keine Ahnung haben können.

Der wache Mensch erkennt seine Chancen, aber auch seine Grenzen. Er übersieht zeitliche Abläufe und Zusammenhänge, er kann Ursachen und Folgen überblicken oder abschätzen. Er fragt nach Ursprung und Ziel seiner Existenz. Er weiß um seine innere Freiheit, wählen zu können. Er kann sich der Einsicht nicht entziehen, dass diese Wahlfreiheit nicht zu trennen ist von der Soll-bindung an Verantwortbares. - Die innere Stimme, die mahnt und warnt, lobt und tadelt, deutet er wohl nicht zu unrecht als Stimme der Macht, die ihn ins Leben gerufen hat.

Wir Menschen sind also offenbar "Wanderer zwischen zwei Welten". Doch traumwandlerische Sicherheit im Suchen und Finden des rechten Weges ist uns nicht gegeben.

Der Schöpferauftrag an uns mit seiner Vieldeutigkeit in der konkreten Situation und das damit mögliche Verfehlen des Auftrags ist Thema und Problem aller Religionen und Philosophien.

Im Vergleich zu den höheren Tieren stolpern wir Menschen quasi maßstablos, ohne vorgegebene Maße, also "maß-los" ins Leben. Wer ermisst die Größe der Verantwortung von jedem, dem junges Leben anvertraut ist, die rechten Maßstäbe nicht vorzusagen, sondern vorzuleben! - Unerwünschte Miterzieher werden sich sowieso nicht abschütteln lassen. Kein Mensch kann sich heute dem Meer an Eindrücken und Einflüssen von außen entziehen. - Wir schwimmen heute ja förmlich darin.

Sie sollten aber für den wachen Menschen nur Herausforderung und Spielmaterial sein, Chance und Risiko, Prüfstand und Versuchung in einem.

Ich fasse zusammen:

Der Mensch muß naturnotwendig seinen Trieben aus tierischem Erbe den ihnen gebührenden Platz einräumen.

Er ist gerufen, sein angeborenes Streben nach Ausprobieren, Erforschen, Erkennen, Verstehen und Gestalten und Finden auszuleben.

Er braucht Antworten auf seine seelischen Urbedürfnisse nach Geborgenheit, nach Angenommen- und Geliebtsein, nach Lieben dürfen, nach einem "Daheim", auch nach geistiger Heimat, nach Glauben- und Hoffen-dürfen, nach Lebenssinn.

Hinter geglücktem und glückendem Leben, hinter wahrer "Selbstverwirklichung" stecken wohl, wenn auch nicht immer klar bewußt, Grundüberzeugungen als Kompass für die Lebensführung: Nämlich ein Glaube, der Gelassenheit in allem auf und ab des Lebens möglich macht, dem Tugenden wie Fairness, Geduld, Takt, Wahrhaftigkeit und Hilfsbereitschaft, Dialogfähigkeit und Einlenkenkönnen meist wortlose Selbstverständlichkeit sind.

Starkmut und Demut sind für mich Schlüsselbegriffe für reife Menschlichkeit. Das erste als Frucht verdienter Selbstachtung, das zweite aus Einsicht in unsere geschöpflichen Grenzen. Diese beiden machen Standfestigkeit möglich in windstillen wie stürmischen Gezeiten des Lebens. So nur auch können wir uns davor schützen, Fahne im Wind eigener Launen, fremder Machtansprüche und wechselnder Moden zu werden.