Ernst Rees: Ein sicherer Weg, Neurotiker zu werden

Der erste der mir bekannten Wege zu diesem makabren "Ziel":

"Brave Kinder" als Leitbild der großen Mehrheit der Eltern und Erzieher bei uns, allerdings vor 1oo Jahren! Damals hatten Kinder vor allem eine Pflicht: Auf's Wort gehorchen! Pflegeleicht hatten Kinder zu sein. Zu "spuren" hatten sie. Jede Widerrede war prügelträchtig. Zuwiderhandeln war kaum vorstellbar. Wo es vorkam, war es gleichbedeutend mit einer Art familiärer Katastrophe.

Die Dressate solcher "Kinderaufzucht" waren danach! - Nicht nur in zahllosen Familien, nein, auch im ganzen "Vaterland". Wohl nur so wurde es möglich, dass das ganze Volk sich im 2o. Jahrhundert gleich zweimal, willenlos zur Schlachtbank treiben ließ.

Die Dressurergebnisse im menschlichen Nahbereich, in Familien, in Schulen wie an vielen Arbeitsplätzen, zeigten häufig Verhaltensmuster, für die junge Menschen heute nur verständnisloses Kopfschütteln übrig hätten:

Duckmäusertum im Blick nach denen oben - Tyrannisches "so - und nicht anders!" nach unten. Mindestens als "Auslaufmodell" gibt es solche "Erziehungskunst" auch heute noch. Wer sich solcher Knute fügt, fügen muss, gegen alles eigene Fühlen, Wünschen, Wissen, verleugnet sich selbst.

Doch jede Vermeidungshaltung, um mir Ausgrenzung, Tadel und Schlimmeres zu ersparen, ist Selbstbetrug. Der solcherart "Schlaue" ist in großer Gefahr, "SELBSTVERWIRKLICHUNG" zu verspielen, also die Entfaltung der von Gott geschenkten Talente.

D.h.: Er verfehlt sich selbst!

Kein Wunder, dass Versagenserfahrungen dieser Art auf Lebenskraft und Lebensfreude wirkt wie scharfer Nachtfrost auf blühende Bäume. Nervosität ist dann oft erst der Anfang einer nur schwer noch umzubiegenden Fehlentwicklung in Richtung: Ungelebtes Leben mit all den möglichen traurigen Erscheinungsbildern.

Heute haben nicht wenige Kinder und junge Leute tolle Chancen, auf eine ganz andere Weise Neurotiker zu werden. Zwar sind Väter keine Haustyrannen mehr,aber viele haben wie die Mütter in der Hektik des heutigen Lebensstils im Wettlauf um Karriere, beruflichem Erfolg, Job, Lebensstandart u. u. u. oft nicht mehr die Zeit, die Kraft und Einstellung für die Zuwendung, die Kinder so unbedingt brauchen, um gedeihen zu können.

Der Psychologe Rattner schreibt dazu:" Das Kind, das in den ersten Lebensjahren nicht die Atmosphäre der Liebe, des Wohlwollens, des Vertrauens und des Verstandenwerdens vorfindet, schließt sich ängstlich oder aggressiv von der Umwelt ab. --- Aus solcher Situation in der Kindheit kommend, streben seelisch Irritierte zu einer Überkompensation ihrer Erfahrungen des Zukurzgekommenseins.

Wo einem Kind die Dimension der Liebe versperrt bleibt, wird es auf die Ebene des Geltungs- und Machtstrebens abgedrängt. Es nährt Feindseligkeit in seinem Gemüt. Schon ein winziger Anlaß kann genügen, um maßlose Aggressionen auszulösen. Alfred Adler, Rattners Lehrer, fand bei so innerlich deformierten Menschen das Zusammenleben sprengende Eigenschaften:" Kleinlichkeit, Unersättlichkeit, Geiz, Neid, Boshaftigkeit, Misstrauen, Taktlosigkeit und Verschlagenheit, aber auch Scheinanpassung und Kriechertum, Servilität und Verlogenheit, ...".

Solcherart vorgeschädigte Menschenkinder sind also zuerst Opfer.Doch damit sind sie zugleich in großer Gefahr, selbst zu Tätern zu werden, die sich aber nur als Opfer fühlen und deshalb Rachegedanken in ihren Herzen hegen. Sie können sich der von ihnen provozierten Kritik und Ablehnung deshalb nicht stellen. Im Gegenteil, es macht sie eher noch depressiver - oder - aggressiver. So kann er natürlich aus seinen Fehlern auch nichts lernen. Und deshalb kann er auch nicht reifer und klüger werden. -

Dem wahnhaften Rechthaber helfen auch schmerzhafteste Reaktionen der von ihm enttäuschten Mitmenschen nichts. Sie beweisen ihm höchstens seine schon eingefleischten Vorurteile.

Der Neurotiker kennt nur seine "Wahrheit". --

Alfred Adler an anderer Stelle: Nervosität, Neurosen, Kriminalität, Perversionen und Psychosen stammen also aus frühem Leid und wandeln sich in pathologische Lebensansprüche, die durch nichts und niemand gestillt werden können. Im Verlangen, sich auf Kosten anderer dauernd durchsetzen zu können, zerreißt der Nervöse oder Aggressive die sozialen Bande, die ihm psychischen Halt geben könnten. -- Ja, "Teufelskreise" sind leicht zu schließen, aber oft nicht mehr aufzubrechen! ----- Ungezählte werden sogar mit ins Grab genommen!