Ernst Rees: Vom menschlichen Reifen

Der nicht gerade problemlose, ja oft schmerzhafte Prozess der Reifung zur Persönlichkeit hat mit der Geburt begonnen - und er ist nie ganz zuende, solange wir leben. Unausgeglichenheiten und Widersprüchlichkeiten stecken auch in sonst noch so beeindruckenden Persönlichkeiten. --- Kein Ruhmesblatt für unser Urteilsvermögen, dass wir für die Bruchstückhaftigkeit von Reifegraden bei andern oft ein gutes Auge haben, während wir für eigene Mängel gar nicht selten blind sind.

Der Reifungsprozess vollzieht sich in unzählbaren Einzelschritten. Gute Beobachter können manchmal Erscheinungsformen eines solchen Schrittes ausmachen:

    Staunen - Zweifel - Verunsicherung - Angst - Abwertung - Spott - aggressive Verteidigung des Gewohnten --- schießlich Umschlag in beschämtes bis befreites, glückliches Übernehmen der "Zumutung" als Gewinn.

Wer sich solchen "Wehen" immer wieder verbissen und vorurteilsversessen entzieht, bleibt zwangsläufig Gefangener überholter wie falscher und fataler Einstellungen. Er bleibt Opfer gefährlicher Gewohnheiten im Denken, Tun und Lassen.M.a.W. Er verfehlt seine wichtigste Aufgabe: Er verfehlt "Selbstverwirklichung"!

Die Austreibung des Babys aus dem Mutterschoß, wenn die Zeit reif ist, steht hier zeichenhaft für viele andere Schritte,die ein Mensch wagen muß, um mündig zu werden. Nur dieses Wagnis öffnet Tore, sprengt Fesseln, schafft Entfaltungsspielraum, der in Eigenregie und in Eigenverantwortung sich mit Leben füllen soll.

Wer einmal übernommene Fehlhaltungen,Infantilismen, Vorurteile - "unbeirrbar" durch neue Erfahrungen und Herausforderungen - fanatisch zum letzten Maßstab seiner Urteile und Handlungen macht, verurteilt sich selbst zum geistigen Tod, vielleicht Jahrzehnte vor dem leiblichen.

Entweder wird daraus ein Kümmerdasein, ein blasses, ungelebtes Leben - oder der Enttäuschte wehrt sich gegen sein vermeintlich ungerechtes Schicksal - und wird "böse" auf seine vermeintlichen Widersacher. - Die "Antwort" der zu Unrecht Angegriffenen wird in der Regel wenig schmeichelhaft sein. - Doch der übersensible Neurotiker sieht in allen erfahrenen Bitternissen immer nur Sündenböcke um sich, nie eigene Anteile. - Er deutet sie deshalb als Bestätigung seiner eingefleischten Vorurteile. - Damit hat sich aber wieder mal ein Teufelskreis geschlossen.

Bis jetzt ist noch gar nicht gesagt,wie den ein reifer Mensch aussieht. Auf einem schon vergilbtem Blatt fand ich vor geraumer Zeit eine diesbezügliche Personenbeschreibung einer reifen Persönlichkeit. Hier ein Auszug daraus:

    Reif sein heißt seinen Zorn beherrschen und Streitigkeiten beilegen, ohne gewalttätig zu werden.

    Reif sein heißt geduldig sein, sich momentanem Genuß zugunsten eines Gewinns auf weite Sicht zu versagen.

    Reif sein heißt Ausdauer zeigen, ein Vorgaben gegen Widerstände und entmutigende Rückschläge durchsetzen zu können

    Reif sein heißt Bedürfnisse und Rechte anderer zu respektieren

    Reif sein heißt auch, sich Unannehmlichkeiten und Enttäuschungen zu stellen, ohne bitter zu werden.

    Reif sein heißt demütig sein! -
    Ein reifer Mensch vermag zu sagen: "Ich habe mich geirrt" oder "Es tut mir leid" - und wenn er im Recht ist, hat er nicht nötig zu sagen: "ich hab es dir ja gleich gesagt".

    Reif sein heißt zuverlässig sein,Wort halten.- Unreife haben für alles eine Entschuldigung!

    Reif sein heißt auch: Mit Dingen, die wir nicht -nicht mehr - ändern können, in Frieden leben.