Ernst Rees: Tarnkappen gibt es nicht nur in Märchen

Wahre Absichten hinter einladendem, verführerischem Schein zu verstecken, ist keine menschliche Erfindung.- Schier unerschöpflich der Einfallsreichtum z.B. von Raubtieren, um ein vielleicht flinkeres Beutetier überlisten zu können. - Nicht geringer der Aufwand an rettenden Einfällen von Beutetieren, ihren Verfolgern ein Schnippchen zu schlagen.- Sogar die Pflanzen haben Strategien entwickelt,sich z.B. vor "Fressfeinden" zu schützen. Tarnung ist also offenbar eine recht erfolgverheißendes Rezept im Reich des Lebendigen.

Der Mensch ist allerdings ein recht gelehriger Schüler in diesem "Fach", hier ein makaberes Beispiel:

Menschen mit peinlichen charakterlichen Schwachstellen sind oft ein Leben lang auf der Flucht vor ihrer Wahrheit,vor ihrem wunden Punkt. Die Angst oder Scheu vor der drohenden, schmerzlichen Selbsterkenntnis treibt mitunter absonderliche Blüten.

Unter Umständen würde ein ganzes Weltbild mit all den eingefleischten Denk-, Einstellungs-, Wertungs- und Handlungsmustern, also dem ritualisierten So-sein, wie ein Kartenhaus zusammenbrechen.

Um solcher Bloßstellung vor sich selbst zu entgehen, ist Betroffenen oft jedes Mittel recht. Ein aufwendiges, anstrengendes, aber bisweilen aufmüpfige Gewissen besänftigendes Mittel, um einem Fegfeuer von Selbstvorwürfen zu entgehen, ist die betonte Pflege von sogenannten Sekundär-tugenden.

Gemeint sind damit gern gesehene und deswegen auch oft honorierte Verhaltens- und Arbeitsweisen und Umgangsformen wie Fleiß, Pünktlichkeit, Sauberkeit, Ordnungsliebe, Höflichkeit, u.u.u.

Ob sie Ausdruck einer reifen Menschlichkeit sind oder eben nur aufgesetzte, gespielte Verhaltensmuster, eben "Sekundärtugenden", das verraten sie dem Menschenkenner durch ihre "Betonung".

Statt Ausdrucksformen reifer Persönlichkeiten zu sein, fungieren sie dann eben nur als Tarnkappen,die ein so bedrängtes ICH vor Verlust von Selbstachtung und Achtung des menschlichen Umfeldes bewahren sollen.

Sekundär-tugenden werden also als eine Art Rettungsring gebraucht, als Lebensretter, aber für was für ein Leben! Denn was wäre ein Leben ohne herzliches Mit-und Füreinander, ohne Freimut und Wagemut, ohne Offenheit und Wahrhaftigkeit, ohne heitere Gelassenheit, ohne Starkmut und Freundschaft, ja was wäre es gar ohne Liebe?

Randnotiz: Natürlich ist mit dem Gesagten nur die vergleichsweise "harmlose" Seite des Themas "Tarnkappen" angesprochen. Die kriminelle Seite überlasse ich gern den Kriminologen.